Tag 7 – 13: Das Warten hat ein Ende!

Tag 7 bis 9

Ab Mittwoch, 2. September, Liefertag des gekauften Autos (theoretisch), kann ich wegen der in der Wolke (Klaut) verschwundenen Aufzeichnungen meine Eindrücke nicht mehr  streng chronologisch schildern. Ich setze dann, wenn mir Wichtiges wieder in den Sinn kommt, diese Tageseindrücke aus Moskau in den laufenden Text ein.

Im Laufe des Tages wollte uns der Veteran, als Ansprechpartner des Autohauses, die Information weiterleiten, wann wir kommen sollen.

Marino Wohnblock

Wohnblocks aus der Breshnew-Ära

Justin arbeitete in seinem Homeoffice und ich ging nach dem Aufschreiben der letzten drei Tage in die nähere Umgebung auf Erkundung. Als ich zum „Neuen Jahr“ vor anderthalb Jahren das erste Mal hier war, war es fast immer dunkel, so daß ich jetzt im Frühherbst staune, was ich damals alles nicht zu sehen bekommen habe.

Hinter den Wohnblocks aus der Breshnew-Ära an der Beresowaja ulica, im angrenzenden Birkenwäldchen, fand ich Garagen aus der Erbauungszeit Mitte der siebziger Jahre in unterschiedlichen Verwitterungszuständen, Pfade in das Waldinnere, wo zwischen um Müll aller Art herumwuchernden Birken, Erlen und Gebüsch aller Art kein Platz für Pilze und Menschen interessierende Bodenvegetation ist.

marino waldmenschenMeine Orientierung an den Stadtgeräuschen führte mich zu einem schlammgefüllten Graben, über dem ein sehr schräger Steg liegt. Ein Umgehungspfad, wie ich annahm. Er führte mich aber nur zu einem halb im Lehmboden versunkenen Anwesen. Es bestand eigentlich aus Sperrmüll. Alte Möbelplatten und Paletten, auf dem Dach mit rostigen Blechplatten bedeckt, sind das Baumaterial der beheizbaren Hütte. Also eine Sackgasse. Während  ich schaue, öffnet sich eine Palettenpforte und zwei Waldmenschen, geschätzt in meinem Alter, treten heraus, bepackt mit Beuteln voller leerer großen Einwegflaschen. Das Vorhaben, zu  fotografieren, vergesse ich.

marino idylle

Am Montag, 7. September, am 10.Tag unserer verhinderten Reise, in der Abendsonne, habe ich dann dieses idyllisch wirkende Foto machen können.

 

Da es in Rußland keine Rückgabemöglichkeit für leere Getränkeflaschen gibt und ich mir nicht vorstellen kann, daß die beiden die Flaschen zum Müllcontainer bringen wollen, nehme ich an, daß sie sich kostenlos aus der Quelle von Knutowo, dem Nachbardorf, wo sich auch die Stadtmenschen gern sauberes Trinkwasser, ohne Chlorgeschmack, holen.

Ich grüßte, machte kehrt, und wagte mich jetzt doch über den schrägen Steg. In Stegmitte, wo er fast den Schlamm berührte, lagen zwei Bretter neben ihm, so daß sich an der unpassierbaren Stelle eine Möglichkeit, zu passieren anbot. Ich ging vorsichtig los, bevor ich auf der Schräge abrutschen konnte, trat ich auf die Hilfsbretter. Da passierte es – „Kracks“ – das angefaulte Brett war entzwei und ich stand mit links knöcheltief im Schlamm. Da erreichte mich auch der Zuruf der Waldfrau: „Ostoroschno!“ (Vorsicht), wie wahr, es war sogar Faulschlamm. Damit war mein Ausflug beendet, denn ich wollte den Gestank schnell loswerden.

Suburbane Wälder haben zu Hause auch ein Problem mit der Siedlungsnähe. Einen Waldmenschen habe ich in Berlin-Heinersdorf auf der alten Industriebahntrasse auch schon getroffen.

Eine derartige ökologische Vernachlässigung in Siedlungsnähe ist mir noch nie vorgekommen. Die Natur schafft es nicht, im gleichen Tempo zu wuchern, wie sich die Anrainer allen unbrauchbaren Drecks entledigen.

Dennoch, nachdem ich die Pufferzone mit den Müllablagerungen überwunden habe, siegt das Grün und blüht sogar.

Marino_BlumenIm Wohngebiet wiederum sind vor den Häusern hin und wieder, in den nicht ganz fertiggestellten Außenanlagen, von Bewohnern, die es gern ein bisschen schön haben wollen, kleine Vorgärten angelegt worden. Die Nachbarn haben nichts dagegen, sie freut es. Der im Sommer trockene, steinharte Lehm und die resistenten Unkräuter bedrohen die Freude an bunten Gartenblumen ständig.

Vorgarten am Mehrfamilienhaus

Vorgarten am Mehrfamilienhaus

Überhaupt ist das Anlegen von Straßen und Wegen auf dem fetten Moskauer Lehmboden sehr aufwendig. Zur Gründung notwendiger Bodenaustausch unterbleibt im Nebenstraßennetz offenbar. Tiefe Schlaglöcher zeigen, daß die Schottertragschicht, auf der die Trag- und Deckschichten aus Asphaltbeton aufgebracht werden, direkt auf dem Lehm liegt, bei Fußwegen befindet sich ein meterbreiter Asphaltstreifen zwischen Straße und dem Drainagegraben vor den Häusern, in den er hineinzurutschen droht, auch Trockenmauern als Stützwände geben nach…

Abrutschender Gehweg

Abrutschender Gehweg

Einige in der Nähe von Böschungen errichtete Garagen und Schuppen stehen bedenklich schief, und drohen den Abhang hinunter zu rutschen  Denn es ist nur im Hochsommer knacktrocken und der Boden wie Stein. Die in den anderen Jahreszeiten häufigen Niederschläge weichen den Lehm auf und machen Ihn zu einer Gleitbahn, für alle Bauten, die nicht fachgerecht tief und auf Schotter und Kies gegründet sind.

10. Tag, Sonnabend 05.09.2015

Nachgebende Stützwand

Nachgebende Stützwand

Am Abend dieses ereignisarmen Tages hörten wir durch die Fenster fernen öffentlichen Festlärm, Lautsprecheransagen und Musik. Das  hatten wir doch beinahe vergessen, heute vor 868 Jahren wurde Moskau das erste Mal urkundlich erwähnt. Die Jahreszahl ist zwar krumm,  aber ein originelles Anagramm. Die Kulturadministration des Stadtteils Filimonki hatte am Kulturhaus eine Freilichtbühne aufgebaut und ein schon seit Mittag laufendes Programm gestaltet. Beim Dunkelwerden, als dann auf der Bühne noch die Showtanzgruppe auftrat, stellte sich heraus, daß irgendwer nicht an das Rampenlicht gedacht hatte. Die Straßenbeleuchtung war zwar eingeschaltet, wurde aber durch das beim ständigen Regen unerläßliche Bühnendach abgeschattet.

Nicht fachgerecht gegründete Bauwerke

Nicht fachgerecht gegründete Bauwerke

Der Entertainer/Alleinunterhalter – übrigens ein guter Sänger – versuchte mit dem einen vorhandenen LED-Show-Effektlicht vergeblich, die missliche Lichtsituation zu bessern. Die Tänzer gaben nach einem Walzer im Dunklen auf. Und der Entertainer mit seinem Improvisationstalent war dran. Er machte eine Disko bis zum nächsten Programmteil.

Wir hatten uns inzwischen auf einem Aushang schlau gemacht, und wussten daß um halb Zehn noch eine „Foier-schou“ – also Tanzakrobtik mit brennenden Fackeln – geplant war.

Wir bereuten es nicht, gewartet zu haben.

Auch diese Amateur-Artisten zeigten ihre Nummern mit professionellem Anspruch. Die fehlende Beleuchtung war jetzt von Vorteil, niemand konnte vergessen, sie auszuschalten.

Das Geheimrezept für diese gelungene, ehrenamtlich organisierte Stadtteilparty war, daß es alles zu einer Party Nötige zu naschen und zu trinken gab –  aber keinen Alkohol.

Die Kinder und Ihre Eltern, das Publikum, gingen bei den Darbietungen richtig mit, das spornte die Amateure an.

13. Tag, Dienstag, 08.09.2015

Die Nachricht  des Tages: Morgen ab zehn steht unser UAZ- Hunter endlich zur Abholung bereit!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Die im eingezwängten Stadtleben erworbene Trägheit abschütteln, alle Ausrüstungsteile und Proviant  zusammensuchen, nach Liste am besten, damit wir nichts vergessen.

Denn morgen  ist bürokratischer Hürdenlauf angesagt, dessen Ablauf nach meinen frischen russischen Erfahrungen in den Ämtern und Institutionen sogar besser organisiert ist als in Berlin. Denn Personalknappheit ist ein Fremdwort, die Öffnungszeiten „ jeshednewno“ – jeden Tag auf deutsch – meinen jeden Tag, also auch Sa./So.(!), von 08:00 – 20:00 Uhr, und zwar durchgehend. Die Wartenummern, im Amt gezogen, sind nach spätestens 15 Minuten dran. Es gibt auch Termine, die an den Wartezeiten nichts ändern.

Auf der Registratur im Stadtamt  meines Moskauer Bezirkes, wo ich mich, weil ich privat wohne, vor Ablauf des siebenten Werktages, um die Gültigkeit meines Visums zu pflegen und Probleme bei Kontrollen im Lande und bei der Ausreise auszuschließen, registrieren lassen muß, waren alle sechzig erkennbaren Schalter in der Halle besetzt. Nach etwa zwanzig Minuten saßen wir wieder im Auto.

Das Problem in Moskau sind nicht die Ämter, wie in Berlin, sondern die Entfernungen.

Frustrierende Fahrt von Amt zu Amt

Frustrierende Fahrt von Amt zu Amt

Die morgige Zickzackfahrt wird uns aus dem Südwesten über die Automeldestelle (Termin machen), ins Autohaus (das Kaufobjekt kontrollieren, übernemen und versichern) und dann wieder zur Meldestelle (Termin wahrnehmen für Autoanmeldung und Kennzeichen) führen. Am Ende bringen wir noch den Veteranen, der sowohl bei der Übergabe, als auch bei der Anmeldung zugegen sein muss, nach Hause. Die Teilstrecke vom Autohaus zur Meldestelle darf in Rußland, wenn das Auto versichert ist und der Versicherungsnehmer am Steuer sitzt, ohne Kennzeichen gefahren werden.

Wenn wir das alles hinter uns haben, ist sicher schon spät, und ich sehe uns nicht vor neun wieder zu Hause, mit den beiden Autos.

Für diesen Anlass steht schon seit elf Tagen eine Flasche „Sowjetskoe Schampanskoje“ kalt.

Donnerstag soll es dann endlich so früh wie möglich losgehen in den Ural, an die Kama, um unser stark abgemagertes Progamm zu absolvieren.

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4 Responses

  1. garling sagt:

    Habe mir die Seite angesehen jetzt bin ich auf mehr gespannt

  2. garling sagt:

    hat mir gut gefallen jetzt warte ich auf mehr

  3. Van sagt:

    Gibt es eine Fortsetzung? Lese es gerade in Dez 2016 🙂

    • Justin sagt:

      Hallo Van,

      ich werde wahrscheinlich in nächster Zeit noch einen Artikel nachschieben, wie die Reise weiter verlaufen ist. Es gab bei mir im vergangenen Jahr einige persönliche Umstände, die mich am regemäßigen Pflegen des Blogs gehindert haben.

      Grüße, Justin

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