Vierter Tag – Sonntag, 30.08.2015
In Polen sagt man Niedziela = nichts tun – den Charakter des Tage sehr treffend.
Dennoch habe ich die ersten drei Tage in die Wolke (Cloud) getippt. Schon in Schulzeiten habe ich Aufsätze geschwänzt, weil mir die Schreiberei mit Stift auf Papier zu langsam und mühsam war. Ich habe immer lieber erzählt, da hielt meine Ausdrucksmöglichkeit mit dem Gedankenfluss Schritt. Das zwar auch anstrengende Tippen erleichtert durch sofortige Lesbarkeit und problemloses Korrigieren, Einfügen und Ergänzen die Schreiberei sehr, und ich beginne, daran Freude zu haben.
Wie beneide ich Strittmatter um seine akkurate und schöne Handschrift .
Fünfter Tag – Montag 31.08.2015
Poniedzialek – in Polen, in Russland sagt man auch: „Ponedelnik“ – „Der Tag nach dem Nichtstun“.
Heute haben wir einen Plan, um die Wartezeit auf das Auto zu überbrücken. Wir planen nämlich früh die Routen um, denn am Nachmittag erwartet uns die Moskauer Babuschka, da wird es russische Gastfreundschaft pur plus Warenje und selbstgemachten Ingwerlikör – Achtung mindestens 50%ig! – geben.
Nö, es kam alles noch besser, es gab nach dem offiziellen Teil – der Begüßung – ein Moskowsij Objed*, ein schier endloses Essen am mit russischen Spezialitäten überladenen Tisch, warm beginnend mit Gebratenem, über Wurst und Käse, mit Gürkchen, Kaviar und Lachs, bis hin zu Gebäck und Süßigkeiten. Dazu gab einen selbstgekelterten süßen Sherry wie ich Ihn das letzte Mal vor 50 Jahren in Frankenhausen bei meiner Großmutter genascht habe.
Den neuen, um Zeit und Entfernungen an die realistischen Möglichkeiten angepassten Plan haben wir auch gefasst. Während etlicher Leerlaufstunden dachte ich mir eine Strecke aus, die „nur“ bis in den Ural an die Kama bei Perm führt. Das „nur“ sind auch noch um die sechstausend Kilometer verteilt auf 11 bis 12 Tage, damit wir uns an interessanten Stellen mehr Zeit lassen können. Ich möchte den Anteil an Strecken auf Nebenstraßen hoch halten. Wir wollen ja schließlich Land und Leute kennenlernen. Alles weitere ergibt sich, wenn wir dort sind.
Nach dem Objed, gegen zehn Uhr abends fuhren wir auf einer Schleichwegempfehlung unseres Yandex**-Navigators um die Staus im Moskauer Stadtautobahnsystem, durch einen neuen Stadteil in unseren Swetlyj Bulwar. Dieser neue Stadtteil machte im Vorbeifahren auf der nagelneuen Schnellstraße einen gut durchgeplanten und vollständigen Eindruck.
Die Fahrt über vierzig Kilometer Stadtstraße schafften wir im flüssigen Verkehr in der knappen Stunde, die der Navigator vorgab. Für den Stadtautobahnring ermittelte er aus den unbewegten GPS-Signalen einen Megastau, der die Fahrzeitschätzung für diese Strecke nach Hause mehr als verdoppelte.
*im Gegensatz zum Frümiko findet Moskowski Objed zwischen mitteleuropäischer Kaffeezeit bis in den Abend hinein statt, und kann dann in ein Nachtmahl mit Tschai und Buterbrod oder/und Wodka und Sakuski übergehen.
** Yandex – Russischer Internet Konzern – ähnlich wie Google
Die Verkehrsprognosen auf Yandex-Maps sind deshalb so genau und aktuell, weil das System die Daten der GPS-Signale der Verkehrsteilnehmer anonym in Echtzeit auf die Karte umsetzt und systematisiert. Nicht anonym sind zu Beispiel die Linienbusse und Trambahnen, die man bei entsprechender Verkleinerung des Maßstabes im Stadtbildausschnitt mit Liniennummer bei der Fahrt orten kann.
In dieser riesigen Stadt mit dem komplizierten Autobahn- und Schnellstraßensystem sind fast alle Fahrzeuge in das Yandex-Navi eingeloggt. Das bringt dann natürlich auch die hohe Genauigkeit der angebotenen Entscheidungshilfen zustande.
6.Tag, 01.09.2015 Weltfriedenstag in Zelenograd
Unser eigentlich letzter Wartetag auf den „UAZik“.
Justin, der in seinem @-Office ja eigentlich immer bereit ist zu arbeiten, hatte mit Partnern einige Dinge vor Ort zu klären. Ich hängte mich da einfach mit ran, und sah mir die Gegend am „vor Ort“ an. So kam ich nach einem Zwischenhalt in einem „Gipermarket“, einem der vielen quadratkilometergroßen Einkaufskolosse, die am MKAD, dem mittleren Moskauer Autobahnring, liegen, nach Zelenograd. Klassischer kleinteiliger Handel und Gewerbe fehlen.
In diesen Konsumkolossen, die unglaublich dicht beieinander liegen, sind stets alle im Westen bekannten großen Handels- und Gastronomieketten vorhanden, russische Firmen bieten fast ausschließlich Importwaren an, die kleinen Handelsfächen sind belegt mit hochpreisigen Boutiquen und Salons, die überdimensionierten Foodcourts werden von den drei amerikanischen Marktführern dominiert, regionale Anbieter haben wenig Chancen, sind aber auch vorhanden. Beispiele wären hier Kroschka-Kartoschka, Jolki-Palki und Mu-Mu. Diese Bereiche sind meist hinter potemkinschen Absichtserklärungen (Skoro otkrytije – wird bald eröffnet…) verborgen.
Zelenograd, in den 60er Jahren zum Elektronikstandort, nordwestlich Moskaus entwickelt, ist eine typische sozialistische Planstadt mit etwa 200-tausend Einwohnern, zwischen Eisenbahnlinie, Industriegebiet und Fluss in den Wald eingebettet. Den Übergang in die postsowjetische Zeit hat diese Stadt relativ gut überstanden, indem sie unter den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst hat und weiter im Bestand genutzt wird. Die Neubauten der letzten 25 Jahre stellen auch keinen völligen Bruch zum Vorherigen dar, sondern passen sich gut in das vorhandene städtebauliche Konzept ein.
Mir fallen gepflegte städtische Anlagen, viele Kinder, saubere Wälder und aktive Gewerbegebiete, in denen produziert wird, auf. Durch die damals geplante Stadtanlage sind Wohnen und Arbeiten dicht beieinander, aber sinnvoll voneinander getrennt, möglich, ich erkenne immer noch das städtebauliche Konzept. Es kommt hier aber nicht zu dieser regellosen Durchmischung von Wohnen und Gewerbe, dem Resultat „liberaler Bau und Wirtschaftpolitik“ wie sie im 21. Jahrhundert im Osten Europas und der GUS üblich sind.
Die Stadtverwaltung Zielenograds ist sich dieses Vorteils einer geplant gewachsenen
Ebenso fällt auf, daß Kunst am Bau, auch wenn sie „sozialistisch“ ist, erhalten wird; denn sie ist ja inzwischen historisch und erzählt Geschichte!
Am heutigen Weltfriedenstag, gleichzeitig Schuljahresbeginn in Russland, feiert die Tanzgruppe einer Schule auf dem zentralen Platz der Jugend mit einer kleinen Darbietung.
Unsere Nachfrage nach unserem Auto ergab, „wsje budjet, morgen sagen wir bescheid.“
Also haben wir noch einen weiteren Tag zu unserer freien touristische Entfaltung im Großraum Moskau.