Die klassische Büroarbeit ist ein Dinosaurier, sie ist theoretisch durch moderne Kommunikationsmittel überwunden worden. Welchen Sinn hat es, jeden Tag von 8 bis 17 Uhr in einem Büro zu sitzen, wenn man die Arbeit auch zu Hause, vielleicht sogar effektiver, erledigen kann? Was gibt es in einem Büro, was es zu Hause nicht gibt und was es rechtfertigt, Menschen zu einem Tagesrhythmus zu zwingen, der vielleicht nicht ihrer ist? Warum wird der steinzeitliche Anwesenheitswahn bis heute zelebriert? In diesem Artikel stelle ich dir das Home Office als Alternative zur klassischen Büroarbeit vor.
Zwang als vermeintliches Allheilmittel
Es scheint im Menschen seit Urzeiten verankert zu sein, dass ohne Zwang nichts funktioniert. So war es im Mittelalter und so ist es heute noch. In der Schule kann ich es ja noch verstehen, denn wenn man die Tafel selbst vor Augen sieht und Gruppenarbeit macht, wird der vorteil einer Anwesenheit schon recht deutlich. Aber sollte nicht ein großer Vorteil des Erwachsenenseins die Selbständigkeit sein? Als Erwachsener trifft man seine eigenen Entscheidungen, statt auf Mutti hören zu müssen. Und doch geben wir nach der Ausbildung alle freiwillig unsere Selbständigkeit auf und machen uns von einem Arbeitgeber abhängig.
Schon müssen wir wieder jeden Tag früh, meistens sogar noch früher, als für die Schule, aufstehen. Schon wird unser Tagesablauf wieder fremdbestimmt. Was habe ich mich in der Kindheit auf das Erwachsenenleben gefreut: Endlich selbst die Entscheidungen für mich treffen. Aber bereits in der Ausbildung musste ich feststellen, dass das wohl eine naive Illusion war. Obwohl ich für meine eigene Tante arbeitete, stand ich ständig unter Druck. Jeden Tag hatte ich Stress auf dem Weg zur Arbeit, wenn ich nicht 10 Minuten vor Acht auf den Parkplatz fuhr, kam das Müllauto in die schmale Straße vor dem Pankower Bürogebäude gefahren und ich musste hinter ihm anstehen, was teilweise bis 8:30 Uhr dauern konnte. Kam ich jedoch nur 1 Minute zu spät ins Büro, wurde ich sofort vorwurfsvoll gefragt: „Warum bist du zu spät?“.
Ein weiteres Problem, was ich mit der Büroarbeit hatte, war meine Effektivität. Ich erledigte meine Aufgaben deutlich schneller als meine Chefin es erwartete, was darin resultierte, dass ich mit Arbeit überhäuft wurde, die gar nicht in mein Feld gehörte. Das führte dazu, dass ich meine Effektivität zurückfuhr, heimlich Youtube-Videos schaute und in unzähligen Foren schmökerte. Das wiederum führte zu einer erhöhten Kontrolle, zu unerwarteten Anrufen mit der Frage „Was machst du gerade?“ und zu Aussagen wie „Ich sehe, dass du gerade nicht an Dokument X arbeitest.“. Ich hatte schon immer eine negative Einstellung zu solchen Zermürbungstaktiken. Diese Entwicklung wurde zu einer Teufelsspirale, je mehr Druck auf mich ausgeübt wurde, desto mehr drosselte ich meine Aktivitäten. Kurz vor meiner Kündigung war es soweit, dass ich 7 von 8 Stunden im Büro auf Youtube und im Chat mit meiner Freundin verbrachte und meine Arbeiten in der letzten Stunde vor Feierabend erledigte.
Dann wechselte ich aus Ermangelung an Phantasie und Alternativen den Arbeitgeber. Mein neuer Chef ließ mir deutlich mehr Freiraum, eine Verspätung war kein wirkliches Problem mehr, solange ich meine Termine einhielt. Ich erhielt mehr Selbständigkeit, teilte mir den Tag selbst ein und entschied ebenfalls selber, wann ich auf Baustellen fuhr und wann ich Prüfberichte schrieb. Das war ein Fortschritt, aber immer noch nicht ideal. Ich war nach wie vor von einem Arbeitgeber abhängig, der mich herumscheuchen konnte und dies auch ab und zu tat.
Mein russischer In-House-Job als Übersetzer für einen deutschen Lackhersteller ist ein gutes Beispiel für einen klassischen Bürojob: Die Arbeit beginnt für alle um 08:00 Uhr und Feierabend ist um 17:00 Uhr. Wer zu spät kommt, wird komisch angeguckt, die Vorgesetzten kommen aber ständig zu spät und niemand stört sich daran. Haben die weniger Arbeit als ich? Gerade in Moskau ist es schwer, irgendwo pünktlich anzukommen, es kommt auf den Straßen immer wieder zu unvorhersehbaren Unfällen und dadurch zu langen Staus. Diese Staus gelten für alle, sowohl für einfache Arbeiter, als auch für Vorgesetzte. Trotzdem wird mit zweierlei Maß gemessen und das scheint für alle ganz normal zu sein.
Hätte ich nicht nebenbei meine Ortsunabhängigkeit aufgebaut, ich wäre in diesem Büro ganz sicher verrückt geworden. Bei einer Arbeitsbelastung von einer halben Stunde pro Tag 9 Stunden absitzen kann zu Depressionen und anderen Unannehmlichkeiten führen. Für mich hatte meine selbständige Arbeit nebenbei zwei Vorteile: einerseits sah ich immer beschäftigt aus, weil ich unablässig tippte, andererseits habe ich so den Büroalltag überstanden, ohne psychische Störungen davon zu tragen.
Jeder Mensch hat seinen eigenen Tagesrhythmus
Während des Jahres im Büro des Lackherstellers ist mir eine Sache aufgefallen: Mein eigener Tagesrhythmus stimmt nicht mit dem Rhythmus der Büroarbeit überein. Ich musste jeden Tag um 5:00 Uhr aufstehen, um ohne Hektik um 8:00 Uhr im Büro zu sitzen. Allerdings bin ich um 8:00 noch so müde und schläfrig, dass an effektives Arbeiten noch nicht zu denken ist. Ich dümpele also passiv vor mich hin und werde erst gegen 11:00 so richtig aktiv. So habe ich schon 6 wache, unproduktive Stunden hinter mir. Um 13:00 ist Mittagspause und mein Produktivitätshoch entfalte ich danach, von 14:00 bis 17:00. Ich habe somit jeden Tag nur 3 wirklich effektive Stunden, in denen ich wirklich viel schaffe. Danach geht es nach Hause. Nach dem Abendessen bin ich meistens nur noch erschöpft und auch kein bisschen produktiv. Dieser Rhythmus hat dazu geführt, dass ich langsam aber sicher immer mehr von meiner Kreativität eingebüßt habe, dass ich verlernt habe, etwas Schönes im Leben zu tun und das Leben zu genießen. Außerdem hast du sicherlich bemerkt, dass meine Blogbeiträge in immer größeren Abständen veröffentlicht wurden. Das hat direkt mit diesem Problem zu tun. Ich hatte weder die Zeit, noch die Kraft, mich mit meinem Blog zu beschäftigen.
Außerdem beläuft sich der Weg ins Büro in meinem Fall auf 1,2-2 Stunden pro Richtung. Das macht auf den Tag gerechnet 3-4 Stunden tote Zeit aus. Zeit, die ich morgens zum Schlafen und abends zum Arbeiten oder entspannen nutzen könnte, sie aber aufgrund einer veralteten Arbeitsmoral im Bus absitzen muss.
Das wäre der Moment, in dem ich aufgeben und mich mit einer Bierflasche und in Filzlatschen vor den Fernseher setzen müsste, um Fußball zu schauen. Ich hätte mich in mein Schicksal fügen müssen, über die langen Durststrecken der Arbeit hinweg auf den Urlaub hinzuleben, in dem ich mich etwas erhole um dann gleich wieder mit neuer Energie in dieselbe Tretmühle zu geraten. Doch dazu habe ich es nicht kommen lassen. Ich kann nicht verstehen, warum so viele Leute freiwillig bis zur Rente in diesem Hamsterrad ausharren. Sie rennen, ohne vorwärts zu kommen, von einer Gehaltserhöhung zur nächsten. Ihre Träume erschöpfen sich in einem 5er BMW, 3 Wochen Sommerurlaub auf Mallorca und darin, selbst Vorgesetzte zu werden, für mehr reicht die Kraft nicht mehr. Dabei waren sie in ihrer Jugend mit Sicherheit alle voller Tatendrang und Aktivität, haben in einer Band gespielt, Kurzgeschichten geschrieben, auf Schachturnieren gespielt, fotografiert und was nicht sonst noch alles.
Der Eintritt in das typische Erwachsenenleben ist eine Phase der Ernüchterung, des „Flausen Austreibens“. Mit „Flausen“ sind Kreativität, Aktivität, Phantasie, Selbständigkeit und ähnliches gemeint, was dem typischen Arbeitsalltag diametral entgegensteht. Stattdessen wird stillschweigend hingenommen, dass das Erwachsenenleben eintönig, gleichförmig, vorgezeichnet und fremdbestimmt ist. Ein Erwachsener muss ohne zu murren ab einer bestimmten Zeit produktiv sein, die ihm vorgegeben wird. Aber ist es denn wirklich so entscheidend, ob ich ein Dokument im 9 Uhr morgens oder um 23 Uhr abends bearbeite? Sollte sich die Arbeit nicht nach dem eigenen Tagesrhythmus richten, statt umgekehrt?
Wenn ich beispielsweise um 8 Uhr aufstehe, kann ich bereits ab 9 Uhr kreativ und produktiv sein. Stehe ich allerdings um 5 Uhr auf, bin ich es erst ab 11 Uhr. Genau so habe ich noch einmal eine produktive Phase, wenn meine Familie ins Bett geht, also nach 23:00 Uhr. Ich arbeite am liebsten vormittags, wenn meine Frau noch schläft und mein Sohn in der Schule ist und nachts, wenn beide schlafen. Nachmittags und abends machen wir etwas zusammen, treiben Sport und essen gemeinsam zu Abend. Diesen Rhythmus habe ich im Dezember ausprobiert, als ich mich aus Erschöpfung für 3 Tage krank meldete. Mir ging es extrem gut in diesen 3 Tagen, ich habe mich besser erholt als in einer Woche Urlaub. Auch haben meine chronischen Nackenschmerzen nachgelassen, weil mein Arbeitsplatz zu Hause ergonomischer eingerichtet ist, als im Büro. Daraus habe ich eine Konsequenz gezogen.
Home Office – der Ausbruch aus dem Hamsterrad
Seit Anfang dieses Monats bin ich offiziell ortsunabhängig. Ich habe mit meinem Arbeitgeber ein Home-Office-Agreement getroffen und arbeite jetzt dauerhaft von zu Hause aus. So habe ich die Freiheit, mich, wenn ich nicht ausgeschlafen bin, noch einmal hinzulegen. Ich kann meinen Rhythmus selbst bestimmen, kann mir meinen Tag eigenständig einteilen. Nicht zu verachten ist auch der Zeitgewinn durch den Wegfall des Arbeitsweges und der Kraftgewinn durch das Mehr an Schlaf. Mir wird so langsam wieder bewusst, dass ich in einer großartigen Stadt lebe, die es zu genießen lohnt. Ich merke, wie Stück für Stück meine Kreativität und mein Tatendrang zurückkehren. Ich werde jetzt auch wieder regelmäßiger und öfter Blogbeiträge veröffentlichen und kann mich nicht zuletzt endlich wieder dem Schreiben widmen.
Während meiner Schulzeit und Ausbildung habe ich mehrere Romane angefangen, aber keinen davon zu Ende bekommen. Nach meinem Einstieg ins klassische Arbeitsleben verließen mich nach und nach die Kraft und die Zeit für solcherlei Vorhaben. Auch das soll sich jetzt ändern. Ich werde mir jetzt bewusst Zeit für meine Hobbys nehmen, sei das nun das Schreiben, das Fotografieren oder das Restaurieren von Oldtimern. Das Home Office gibt mir nun die Freiheit, diese Aktivitäten in meinem Tages- und Wochenplan unterzubringen, ohne sie auf den Abend und das Wochenende zu schieben, wenn man klassisch müde ist und sich ausruhen möchte.
Ein weiterer Vorteil des Home Office ist die Möglichkeit „antizyklischen Fahrens“, was insbesondere in Millionenmetropolen wie Moskau eine große Bedeutung hat. Bei einem klassischen 9-to-5-Job fährt man gewöhnlich morgens mit allen anderen zusammen in die Stadt hinein und abends mit allen zusammen wieder in den Vorort („zyklisch“, d.h. in Richtung des Kreislaufes). Es kommt also genau zweimal am Tag zu Staus, den sogenannten Rush Hours. Ebenso fahren alle am Wochenende ins Einkaufszentrum, was sich in Parkplatzmangel, leeren Regalen und langen Schlangen an der Kasse bemerkbar macht. Im Home Office kann man hingegen „antizyklisch“ – d.h. entgegen dem Kreislauf – fahren: Man fährt vormittags, wenn alle schon auf der Arbeit sind, in die Stadt, macht seine Besorgungen und fährt nachmittags, wenn alle noch auf der Arbeit sind, wieder nach Hause. Außerdem kann man unter der Woche ins Einkaufszentrum fahren, wenn dort nur wenige Kunden unterwegs sind. Man nutzt quasi die schwach ausgelasteten Tageszeiten für sich aus und fährt auf freien Straßen, wenn in die Gegenrichtung Staus stehen.
Natürlich hat die Sache auch einen Haken: dieses Agreement kostet mich die Hälfte meines monatlichen Lohns, der durch den Rubel-Kursverfall ohnehin nicht allzu hoch war. Trotzdem komme ich, wenn ich mein Einkommen durch meine durchschnittliche Anzahl monatlich übersetzter Wörter teile, auf einen ziemlich einträglichen Wortpreis. Und ich erhalte dieses Einkommen unabhängig von der Anzahl an Übersetzungen, die von Monat zu Monat variiert. Ich kann es als eine Art Sicherheitspolster ansehen, falls mir bei meiner Freelancer-Tätigkeit ein Großkunde wegbricht oder ein anderes Projekt hinter den Erwartungen zurückbleibt. habe ich aber auch deutlich weniger Stress. Und muss nicht mehr jeden Tag zu unmenschlichen Zeiten aufstehen, nur um die Vorgesetzten zufrieden zu stellen.
Vergleich: Home Office vs. Büroarbeit
Büroarbeit | Home Office |
· viel tote Wegezeit | · wegfallende Wegezeit kann zum Schlafen oder Entspannen genutzt werden |
· fremdbestimmter Tagesrhythmus | · Tagesrhythmus kann weitestgehend selbst bestimmt werden |
· Anwesenheitspflicht unabhängig von der Arbeitsbelastung | · Arbeitszeit richtet sich nach der Arbeitsbelastung |
· Ständige Kontrolle durch Vorgesetzte | · Entzug der Kontrolle durch räumliche Abwesenheit |
· Keine Zeit/Kraft für Hobbys und Kreativität | · Mehr Freiraum für die Unterbringung von arbeitsfernen Aktivitäten |
· Entfremdung von der Familie durch ständige Abwesenheit | · Flexiblere Freizeitgestaltung |
· Staus und überfüllte Geschäfte durch „zyklisches fahren“ | · Möglichkeit des „antizyklischen Fahrens“ zur Vermeidung von Staus |
Als Anregung für diesen Artikel hat mir das Buch Die 4-Stunden-Woche von Tim Ferris* gedient.
Wenn du die oben beschriebenen Symptome kennst und der Meinung bist, du könntest deine Arbeit genauso gut von zu Hause aus erledigen, solltest du nicht zögern und deinem Chef auch eine Home-Office-Regelung vorschlagen. Auch das oben genannte Buch kann ich dir nur empfehlen, wenn du aus dem steinzeitlichen Hamsterrad ausbrechen willst. Du kannst dabei nur gewinnen.
In diesem Sinne: Lass dich von deinen Ideen leiten!
Justin
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